Igor Vassilevich und die ukrainische Armee

Berlin, 2003
House of the Red Army and Navy in Kiev today

Foto: Wikipedia

Welche Truppen? Sie meinen sicher das „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Da sind Sie hier total falsch, das liegt am anderen Ende der Stadt. Nein, ich meine das „Museum der Geschichte der Streitkräfte“ und das muss hier in der Nähe sein. Ratloses Schweigen. So geht es mir ungefähr 10 Mal bis ich mich wenigstens erfolgreich zum Haus der Offiziere durchgefragt habe. Wenigstens hier muss man doch über die eigenen Truppen Bescheid wissen, auch wenn ich in Ermangelung ukrainischer Sprachkenntnisse das hier allseits übliche Russisch verwende. Befremdlicherweise gelingt es mir auch hier erst nach einigen Versuchen, eine Wegbeschreibung zu erhalten. Dabei handelt es sich immerhin um das landeseigene, also ukrainische Truppenmuseum, das sich eben der heimatlichen Armee widmet und NICHT der sowieso russischen Sowjetarmee. Aber um ehrlich zu sein, bestätigt das nur meine Erfahrung, dass es die Ukrainer mit der Emanzipation von dem großen Bruder nicht allzu genau nehmen. Doch diese Rechnung habe ich ohne Igor Vassilevich gemacht. Und der wartet schon vor der Tür des Museums auf dem Bürgersteig auf mich. Zielsicher und siegesgewiss begrüßt er mich mit Namen, bevor ich überhaupt Guten Tag sagen kann. Energisch führt er mich ins Innere der heiligen Hallen und beginnt ohne Umschweife seinen Vortrag, der nun auch für die nächsten drei Tage andauert.

House of the Red Army and Navy in Kiev

Foto: Wikipedia

Ich bin also angekommen an einem weiteren Ziel meiner Recherchereisen für das Ausstellungsprojekt „Weltkrieg. 1914-1918“. Bei den Reisevorbereitungen in Berlin habe ich mich ohne Zögern außer für das Historische Museum und das Stadtmuseum auch für den Besuch des „Museums der Geschichte der Streitkräfte“ entschieden – wo sonst sollten die militärgeschichtlichen Objekte zu unserem Thema sein? Immerhin hat die Ukraine sich im Laufe des Ersten Weltkrieges von Russland emanzipiert und schließlich – wenn auch zugegebenermaßen nur kurz – die Unabhängigkeit erreicht. Aber hier liegt wahrscheinlich der Hase im Pfeffer. Oder der Hund begraben, wie es auf russisch heißt. Angesichts der nur kurzen ukrainischen Freiheit 1918/19 sowie seit 1991 nach ein paar hundert Jahren russischer Vorherrschaft bleibt das „Museum der Geschichte der Truppen“ unter dem allgegenwärtigen „Staatlichen Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ begraben.

Wie dem auch sei, nun bin ich eben mal hier, und komme auch sowieso nicht mehr weg. Igor Vassilevich hat mich im Griff und zwar im buchstäblichen Sinne. Er geleitet mich die Paradetreppe zu den Gefilden des – wie in der Sowjetunion – allmächtigen Direktors hinauf. Dabei macht er sich offensichtlich so große Sorgen um seine Chance, mich in die Geheimnisse der ukrainischen Heeresgeschichte einzuweihen, dass er mich unbeirrbar am angewinkelten Unterarm stützt, an meiner rechten Seite versteht sich. Vor- und Vatersname machen übrigens im Russischen die offizielle Anrede aus, der Nachname wird in der alten Schule gar nicht erwähnt. Und Igor Vassilevich ist ein Musterbeispiel der alten Schule.

Davon zeugt auch der Respekt, den er dem deutlich jüngeren, smarten Direktor in Uniform zollt, wenn auch mit leicht süffisantem Lächeln. Dieser versichert mich der uneingeschränkten Unterstützung und weist mir – na? – Igor Vassilevich als offiziellen Begleiter zu. Wir könnten über alle Exponate des Hauses verfügen, die wir benötigen. Leider seien das nicht sehr viele (obwohl die Ukrainer doch schon Jahrhunderte nach Unabhängigkeit streben?!), aber die könne ich mir ja jetzt erst mal ansehen. Man entlässt mich also in die Ausstellung in Begleitung von Igor Vassilevich.

Ich hätte schon stutzig werden müssen bei der Frage des Direktors, ob ich gut zuhören könnte. Als der sich dann aber am Eingang der Ausstellung verabschiedet mit dem Hinweis, er hätte doch noch ziemlich viel zu tun, da schwante es mir schon. Igor Vassilevich dagegen lächelt zuversichtlich und – zückt seinen Zeigestock. Die Tatsache, dass er zivil gekleidet ist, hatte mir irrtümlich den Eindruck vermittelt, er denke vielleicht auch zivil, aber weit gefehlt. Wahrscheinlich wurde ihm ein Anzug nahegelegt, um die Besucher nicht vollends einzuschüchtern. Das jedenfalls gelingt ihm bei mir in den nächsten 2,5 Stunden [sic] vortrefflich und eigentlich habe ich sonst keine Schwierigkeiten, zu Wort zu kommen. Im Stile alter sowjetischer Pädagogik unterbricht er seinen monologartigen Frontalvortrag vor den streng gegliederten, geschlossenen Vitrinen von Zeit zu Zeit mit der scharfen Frage: „Ist das jetzt klar?“ Ich nicke gehorsam, notiere, wie von mir erwartet, die Fakten und schaue dabei verstohlen auf die Uhr. Kurz vor der völligen Erschöpfung zeigt sich wieder ein Lächeln auf den Lippen Igor Vassilevichs. Zu der Zeit des Bürgerkriegs kommen wir dann morgen. Erleichterung – doch: Bevor ich gehe, muss ich unbedingt einen Blick in die Sonderausstellung werfen. Diese soll endgültig dazu dienen, mich von der schon immer bestehenden Unabhängigkeit des ukrainischen Heeres zu überzeugen. Zu sehen sind Krieger der Steinzeit.

Als Fazit lässt sich festhalten: Objekte des Streitkräftemuseums werden wir leider kaum ausleihen, was nicht nur an der in der Tat kleinen Sammlung des noch jungen Hauses liegt. Vielmehr können die Objekte, so Igor Vassilevich bestimmt und in wunderbar bewusster Ignoranz der Worte des Direktors, aus der Ausstellung nicht entfernt werden – wie sollte man sonst die ukrainische Unabhängigkeit vermitteln? Wie auch immer, ich fahre befriedigt wieder ab, bin ich doch sehr gastfreundlich und höflich empfangen worden, habe viel über die Ukraine oder auch die Sowjetunion gelernt und möchte unbedingt empfehlen, mal eine Ausstellung über die ukrainische Unabhängigkeit zu machen.